
Die Diskussion über sexuelle Übergriffe in der Physiotherapie gewinnt zunehmend an Brisanz. In Baden-Württemberg fordern verschiedene Physiotherapie-Verbände eine verbindliche Ausbildung, die sich mit Grenzsetzungen und dem Umgang mit sexueller Belästigung auseinandersetzt. Angesichts aktueller Vorfälle, wie der Verhaftung eines Physiotherapeuten im Kreis Heilbronn wegen sexueller Übergriffe auf eine Patientin, hat das Thema an Dringlichkeit gewonnen. Hierbei wird deutlich, dass auch Therapeuten selbst häufig Opfer solcher Übergriffe sind, wie die Landesvorsitzende von Physio Deutschland, Hannah Hecker, berichtet.
Die Problematik der sexuellen Belästigung in der Physiotherapie wird auch durch die Schilderungen von Praktikern untermauert. Katja Schlungbaum, Inhaberin einer Physiopraxis, erzählte von unangenehmen Erfahrungen, wie anzüglichen Bemerkungen und gezielten Übergriffen. Eine Auszubildende, Ernesa Mordina, berichtete zudem von einem belästigenden Vorfall mit einem Patienten. Diese Erlebnisse verdeutlichen, dass Grenzen etwa im Rahmen der Ausbildung nicht ausreichend thematisiert werden, was laut Manuela Kindermann von der Fachberatungsstelle Pfiffigunde dringend geändert werden muss.
Aktuelle Ausbildungsstandards und Reformansätze
Derzeit ist der Umgang mit Grenzen kein verpflichtender Bestandteil der Physiotherapie-Ausbildung, die auf einem Gesetz von 1994 fußt und als überholt gilt. Physio Deutschland fordert seit Jahren eine Novellierung dieser Ausbildung, um sicherzustellen, dass Themen wie sexuelle Übergriffe adäquat behandelt werden. Das Gesundheitsministerium plant, diese Themen in die bundesrechtlichen Grundlagen der Ausbildung aufzunehmen. Es stehen jedoch weitere Reformen bevor, da ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag zur Reform der Physiotherapieausbildung zur Beratung ansteht. Dieser Antrag zielt darauf ab, die Physiotherapieausbildung weiterzuentwickeln und an die aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen, wie dem demografischen Wandel und der zunehmenden Multimorbidität, anzupassen.
Ein zentrales Ziel der Reform ist die Teilakademisierung und die Erweiterung der Kompetenzen von Physiotherapeuten. Dabei wird auf bestehenden Ausbildungsstrukturen aufgebaut, was eine Evolution des Systems zur Folge haben soll. Auch der Zugang zur Ausbildung für medizinische Bademeister und Masseure wird erleichtert. Die Reform sieht zudem vor, dass 10-20% der Ausbildung akademische Inhalte umfassen.
Statistik und präventive Maßnahmen
Die Notwendigkeit solcher Reformen wird durch alarmierende Statistiken untermauert. Im Jahr 2024 wurden in Baden-Württemberg 14.420 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert. Dies stellt eine erhebliche Zahl dar und zeigt die Dringlichkeit, in der Ausbildung von Physiotherapeuten präventiv tätig zu werden.
Angebote für Betroffene von sexualisierter Gewalt sind ebenfalls entscheidend, um den Opfern Unterstützung zu bieten. Dazu zählen die Hilfe-Portal sexueller Missbrauch (0800 22 55 530), die Nummer gegen Kummer (116 111) sowie der Verein N.I.N.A. und das Elterntelefon (0800 111 0 550).
Abschließend bleibt festzuhalten, dass sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz ein relevantes Thema darstellen, das nicht nur Therapeutinnen und Therapeuten betrifft, sondern auch Patienten. Studien belegen, dass sexuelle Belästigung eine psychische Belastung darstellt und somit eine arbeitsbedingte Gesundheitsgefahr darstellt. Umso wichtiger ist es, in der Ausbildung geeignete Schutzmaßnahmen und Handlungsstrategien zu implementieren, die eine gewalt- und diskriminierungsfreie Umgebung schaffen.
Es bleibt zu hoffen, dass die anstehenden Reformen und Diskussionen zu einer Umgestaltung der Physiotherapie-Ausbildung führen, die sowohl für die Therapeuten als auch für die Patienten von Vorteil ist.
Für weiterführende Informationen siehe auch SWR Aktuell, Bundestag und DGUV.