
In Deutschland werden jährlich viele medizinische Leistungen mit zweifelhaftem Nutzen verschrieben, was zu hohen Kosten im Gesundheitswesen führt. Laut einer umfangreichen Studie von Wissenschaftlern der Technischen Universität Berlin und dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) wurde die Überversorgung im deutschen Gesundheitssystem aufgedeckt. Diese Analyse basierte auf Abrechnungsdaten der Techniker Krankenkasse (TK) für 24 medizinische Leistungen, die als unangemessen eingestuft wurden.
Im Zeitraum von 2019 bis 2021 wurden im Schnitt jährlich 10,6 Millionen Fälle untersucht, von denen 4 bis 10,4 Prozent als Leistungen mit geringem medizinischem Wert klassifiziert wurden. Dies bedeutet, dass insgesamt etwa 1,6 Millionen Patienten mindestens eine dieser fragwürdigen Leistungen erhielten. Die geschätzten Kosten für diese medizinischen Fehlentscheidungen im ambulanten Sektor belaufen sich auf rund 10 bis 15 Millionen Euro jährlich.
Beispiele fragwürdiger Leistungen
In der Studie wurden spezifische Leistungen identifiziert, die oft ohne ausreichende medizinische Indikation erbracht werden. Dazu gehören unter anderem:
- Verschreibung von Antibiotika bei unkomplizierten Atemwegsinfektionen
- Röntgen, CT oder MRT bei Rückenschmerzen
- Messung von Schilddrüsenhormonen fT3/fT4 bei bekannter Schilddrüsenunterfunktion
- Regelmäßige Untersuchung der Knochenmineraldichte
- Inhalationstherapie bei COPD ohne vorherige Diagnosebestätigung durch Spirometrie
- Verschreibung von unwirksamen Medikamenten bei Alzheimer
Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Bestimmung von Schilddrüsenhormonen and Tumormarkern ohne Krebsdiagnose, die als vermeidbare Ausgaben identifiziert wurden. Die Forschung zeigt, dass etwa 200.000 bis 300.000 Fälle jährlich vermieden werden könnten, was zu Einsparungen von über 2 Millionen Euro führt.
Gründe für Überversorgung
Die Studie belegt, dass es mehrere Faktoren gibt, die zur Überversorgung beitragen. Finanzielle Anreize für bestimmte Leistungen, Zeitdruck bei der Patientenversorgung und die Erwartungen der Patienten spielen eine entscheidende Rolle. Auch Glaubenssätze wie „Viel hilft viel“ werden genannt. Dabei ist der Nutzen einer Leistung als zweifelhaft nicht gleichbedeutend mit ihrer Überflüssigkeit; es sei ebenfalls berücksichtigt, dass Ärztinnen und Ärzte Ermessensentscheidungen treffen müssen.
Verena Vogt, die Leiterin der Studie, betont, dass mehr Untersuchungen nicht automatisch zu besserer Gesundheit führen. Dies zeigt sich auch in der hohen Summe, die Deutschland im internationalen Vergleich für Gesundheit ausgibt, ohne dass dies in einer entsprechend höheren Lebenserwartung resultiert. Dominik von Stillfried, Vorstand des Zi, äußert, dass nicht alle als fragwürdig eingestuften Leistungen als überflüssig erachtet werden können, da sie in bestimmten Fällen gerechtfertigt sein können, insbesondere bei älteren Patienten.
Die umfassende Analyse der Technischen Universität Berlin und des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung soll als Impulsgeber für zukünftige Untersuchungen dienen und die Entwicklung gezielter Maßnahmen zur Verbesserung der Patientenversorgung unterstützen. Das Projekt „IndiQ“, das mit rund 800.000 Euro vom Innovationsfonds des G-BA gefördert wurde, zielt darauf ab, die Indikationsqualität in Routinedaten zu messen und somit langfristig die Überversorgung zu reduzieren.