
Eine aktuelle Studie der Universität Kassel unter der Leitung von Flückiger zeigt auf, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten weniger voreingenommen sind als zuvor angenommen. Die Untersuchung umfasste 120 Fachleute und bestand aus zwei Experimenten, welche die ersten klinischen Eindrücke in zwei verschiedenen Patientenfällen erfassten. Dabei evaluieren die Therapeuten in verschiedenen Bedingungen, ob sie einen symptomfokussierten oder stärkenfokussierten Aufmerksamkeitsfokus einnehmen. Interessant ist, dass unter den symptomfokussierten Bedingungen die Patienten als stärker belastet, weniger belastbar und weniger psychosozial integriert eingeschätzt wurden.
Trotz statistisch signifikanter Ergebnisse stellte die Studie fest, dass die Effekte klinisch vernachlässigbar sind. Dies widerspricht der bisherigen Annahme, die durch das berühmte Rosenhan-Experiment von 1973 geprägt wurde. In dieser Untersuchung stellte der Psychologe David Rosenhan die Zuverlässigkeit psychiatrischer Diagnosen in Frage, indem er „Pseudopatienten“ rekrutierte, die sich in psychiatrische Kliniken einwiesen, um zu testen, ob sie als gesund erachtet würden. Die Ergebnisse zeigten, dass Ärzte gesunde Personen fälschlicherweise als psychisch krank diagnostizierten.
Widerspruch zu Rosenhan
Die neuen Erkenntnisse von Flückiger und seinem Team widerlegen die weit verbreitete Annahme, dass Psychotherapeuten die psychische Gesundheit ihrer Patienten systematisch schlechter einschätzen. Flückiger betont, dass Therapeuten zwar weiterhin beeinflussbar sind, jedoch nicht in dem Maße, wie es das Rosenhan-Experiment vermuten ließ. Die Resultate der aktuellen Studie haben auch praktische Relevanz, da sie die Notwendigkeit einer sorgfältigen und ausgewogenen Diagnostik unterstreichen, die sowohl die Belastungen als auch die Fähigkeiten der Patienten berücksichtigt.
Das ursprüngliche Rosenhan-Experiment hob hervor, dass psychiatrische Diagnosen oft auf subjektiven Beobachtungen und Selbstberichten basieren, und nicht auf objektiven biologischen Marker. Dies führt zu der Frage, wie wichtig es ist, dass Diagnostiker ihre Vorurteile und Annahmen überprüfen. Zwar existieren diagnostische Kriterien, wie im Pschyrembel beschrieben, doch können diese durch klinischen Bias beeinflusst werden. Rosenhans Studie bleibt ein kritisches Beispiel für die Komplexität psychiatrischer Diagnosen und hat weiterhin Auswirkungen auf das Feld der Psychologie.
Die Ergebnisse von Flückiger geben neue Impulse für die Ausbildung und Praxis von Fachpersonen in der Psychotherapie. Sie fordern eine grundlegende Neubewertung der Diagnostik durch eine objektive, umfassende Analyse, welche die Ansprüche an die psychische Gesundheit aller beteiligten Personen steigert und mögliche Fehlurteile vorbeugt.