
Die Volkswagenstiftung hat ein innovatives Forschungsprojekt an der Universität Bielefeld mit einer Förderung von knapp einer Million Euro ins Leben gerufen. Dieses Projekt, mit dem Titel „Towards a Material-Oriented Theory of History“, wird von Professorin Dr. Lisa Regazzoni geleitet. Ziel ist es, die Geschichtswissenschaft neu zu denken, indem der Fokus auf die Materialität und die Theorien zur Materie in den Naturwissenschaften gelegt wird.
Das Projekt wird voraussichtlich Anfang 2026 starten. Regazzoni strebt an, die traditionell betrachtete Vergangenheit als abgeschlossene Ereignisse zu überwinden. Sie möchte untersuchen, wie historische Phänomene durch Materialien, Methoden und die Wahrnehmung von Beobachter*innen geformt werden. Ein zentraler Aspekt ist die Erschließung von „Theorie-Dingen“ – dazu gehören Objekte wie Eisenschlacke und Kieselsteine sowie Flecken auf historischen Textilien wie einer Taufhaube.
Forschungsansatz und Methodik
Durch die Verbindung von Geschichte und Naturwissenschaften soll eine neue wissenschaftliche Fragestellung entwickelt werden, die sowohl die Naturgeschichte als auch die Menschheitsgeschichte umfasst. Ein innovatives Kernstück des Projekts ist das theorieorientierte Objektlabor („TOOL“). Hier können Historiker*innen und Naturwissenschaftler*innen zusammenarbeiten, um Objekte aus der Geschichte eingehend zu analysieren.
Dr. Boaz Paz von den Paz Laboratorien für Archäometrie wird dabei Spezialmikroskope und chemische Verfahren einsetzen, um die Objekte zu untersuchen. Die TOOL-Sammlung umfasst 40 besondere Objekte, darunter eine Figurensammlung von dem bekannten Historiker Reinhart Koselleck. Diese Kombination aus geistes- und naturwissenschaftlicher Perspektive zielt darauf ab, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die den Austausch und das Verständnis zwischen den Disziplinen fördert. Letztlich strebt Regazzoni eine neue Theorie der Geschichte an, von der alle historischen Wissenschaften profitieren sollen.
Professorin Lisa Regazzoni: Weg zur Professur
Lisa Regazzoni wurde 2006 in Philosophie promoviert und habilitierte sich 2020 in Neuer Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. Seit Juni 2020 ist sie Professorin für Geschichtstheorie an der Universität Bielefeld. Die Fördermittel in Höhe von 935.000 Euro stammen aus dem Momentum-Programm der Volkswagenstiftung, das Professor*innen in den ersten drei bis fünf Jahren ihrer Lebenszeitprofessur gezielt unterstützt.
Das Momentum-Programm, das eine Laufzeit von bis zu sieben Jahren umfasst, schafft Freiräume für innovative Forschung und ermöglicht es, bis zu eine Million Euro zu beantragen. Wichtig ist, dass die beantragten Mittel zweckgebunden eingesetzt werden und nicht zur Entlastung des Grundetats oder zur Deckung von Etatlücken verwendet werden dürfen, wie die Stiftung in ihren Richtlinien festlegt volkswagenstiftung.de erläutert.
Materialität in der Geschichtswissenschaft
Das Konzept der „Materialität“ gewinnt in der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Forschung zunehmend an Bedeutung. Es fordert dazu auf, die Dinglichkeit der Welt „ernst zu nehmen“. Diese Perspektive ermöglicht es, verschiedene Forschungsbereiche zu integrieren, von der Medizin- und Wissensgeschichte bis hin zur Umwelt- und Technikgeschichte. Auch die Kritik an radikalem Konstruktivismus findet Beachtung, insbesondere im Kontext der Geschlechterforschung historikertag.de.
In dieser zunehmend interdisziplinären Debatte sollen die unterschiedlichen Konzepte von Materialität erforscht und für die empirische Arbeit nutzbar gemacht werden. Durch den Austausch von Erkenntnissen und Erfahrungen wird das Potenzial des Theorieangebots in der Geschichtswissenschaft gestärkt und die Zukunft dieser Disziplin entscheidend beeinflusst.