
In der Türkei eskalieren die Proteste gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu, die am Sonntag zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten führten. Zehntausende Menschen mobilisieren sich in Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir und sind trotz eines offiziellen Demonstrationsverbots auf die Straßen gegangen. Seit Beginn der Unruhen wurden über 1.100 Teilnehmer festgenommen, darunter mindestens zehn Journalisten, während mehr als 120 Polizisten verletzt wurden. Offizielle Angaben zu verletzten Demonstranten sind hingegen nicht verfügbar. Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnet die Proteste als „Gewaltbewegung“ und kündigt rechtliche Konsequenzen an, die sich gegen die Teilnehmer richten sollen.
Die aktuellen Proteste sind die bedeutendsten seit den Gezi-Protesten von 2013, als landesweite Unruhen die autoritäre Politik Erdogans in Frage stellten. Imamoglu, der am vergangenen Mittwoch unter Korruptions- und Terrorvorwürfen festgenommen und am Sonntagabend als Bürgermeister abgesetzt wurde, gilt als Erdogans stärkster politischer Herausforderer für die Präsidentschaftswahlen 2028. Er bestreitet die Vorwürfe und sieht die Ermittlungen als politischen Versuch, ihn zu diskreditieren. CHP-Chef Özgür Özel plant, Imamoglu im Gefängnis zu besuchen, und fordert dessen Freilassung bis zur Verhandlung.
Politische Repression und das autoritäre Regime
Erdogan regiert seit über 22 Jahren die Türkei und hat einen Kurs eingeschlagen, der von vielen Kritikern als autokratisch angesehen wird. Die Verfassung von 2017 ermöglicht ihm, maximal zwei fünfjährige Amtszeiten zu absolvieren, jedoch könnten vorgezogene Neuwahlen ihm die Gelegenheit geben, erneut zu kandidieren. Dies steht im Kontext anhaltender Proteste, die Erdogans Macht gefährden könnten, besonders vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden Wirtschaftslage.
Die türkische Regierung bestreitet, dass die Inhaftierung von Imamoglu politische Motive hat, doch Menschenrechtsorganisationen weisen auf die zunehmend kritische Menschenrechtslage in der Türkei hin. Die Oppositionspartei CHP hat Imamoglu kürzlich zu ihrem Präsidentschaftskandidaten gewählt, und es gibt unter den Wählern Anzeichen von Unterstützung für ihn – trotz seiner Inhaftierung. Umfragen zeigen vielversprechende Chancen für Imamoglu, der 2019 zum Bürgermeister gewählt und dessen Wahl später wiederholt wurde. 2022 wurde er jedoch wegen Beleidigung verurteilt, ein Urteil, das bislang nicht rechtskräftig ist.
Erinnerung an die Gezi-Proteste
Die jüngsten Proteste wecken Erinnerungen an die Gezi-Proteste, die vor zehn Jahren auf dem Taksim-Platz begannen. Diese waren der letzte große Aufstand gegen Erdogans Regierung. Während jener Proteste kam es zu massiven Gewaltanwendungen von Seiten der Polizei. Der Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern sind nicht nur in der jüngeren Protestwelle wieder deutlich geworden, sondern auch auf die Übergriffe von 2013 zurückzuführen. Damals wurden mehrere führende Aktivisten verurteilt, darunter die Filmproduzentin Cigdem Mater, deren Haftstrafe von 18 Jahren aufgrund der vermeintlichen Herstellung eines Films verhängt wurde, der nie produziert wurde.
Angesichts der aktuellen Situation zeigt sich Europa besorgt, ist jedoch auch an strategischen Beziehungen zur Türkei interessiert. Während einige Stimmen in der EU fordern, die Beitrittsgespräche abzubrechen, könnten solche Maßnahmen den Kandidatenstatus der Türkei gefährden. Die Proteste von heute stellen somit nicht nur eine Reaktion auf die autoritäre Politik der Regierung dar, sondern tragen auch das Potenzial in sich, die politische Landschaft der Türkei grundlegend zu verändern.