
Deutschland steht vor einer entscheidenden wirtschaftspolitischen Zäsur. Reint Gropp, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), spricht in einem aktuellen Interview über die Herausforderungen und notwendigen Reformen, die die Bundesregierung angehen muss. Seiner Meinung nach reichen kosmetische Änderungen nicht aus, um die drängenden Probleme zu lösen. Gropp fordert tiefgreifende und umfassende Reformen, insbesondere im Bereich der Renten. Er stellt fest, dass die gegenwärtigen Rentenmodelle nicht finanzierbar sind und deutet auf die demografischen Herausforderungen hin, die hierbei besonders ins Gewicht fallen.
Zusätzlich äußert Gropp Frustration über das aktuelle Steuermodell, das vor allem mittlere Einkommen stark belastet. Er sieht die Notwendigkeit einer gerechteren Einkommensverteilung, um das Vertrauen der Bürger in die Politik zurückzugewinnen. Dies wird auch von Claudia Schnitzer, Chefin der Wirtschaftsweisen, unterstützt. Sie fordert ein entschlossenes Handeln in fünf Kernbereichen, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu sichern. Dazu gehört die sofortige Abschaffung der „Rente mit 63“ und die Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung, damit zwei Drittel der zusätzlichen Lebenszeit in die Arbeit fließen.
Notwendige Reformen für die Zukunft
Darüber hinaus sieht Gropp auch dringenden Handlungsbedarf in der Energie- und Klimapolitik. Um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, sind grundlegende Reformen gefordert. Auch Schnitzer betont, dass die Transformation der Industrie entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit sei, und hebt die Notwendigkeit eines klaren Fokus auf Elektroautos hervor. Sie ruft zudem zur Verbesserung der Ladeinfrastruktur auf, die gegenwärtig als unzureichend gilt.
Ein weiterer Punkt, der sowohl von Gropp als auch Schnitzer aufgegriffen wird, ist der Abbau von Bürokratie. Insbesondere in Bezug auf eine mögliche Koalition zwischen Union und SPD sieht Gropp Spannungen, erkennt jedoch auch Gemeinsamkeiten in den Zielen beider Parteien in Bezug auf Bürokratieabbau und Klimapolitik.
Schnitzer warnt zudem vor Steuersenkungen auf Pump und weist darauf hin, dass Deutschland bereits eine hohe Steuerlast hat. Die Kreditspielräume sollten besser für Infrastrukturinvestitionen oder Verteidigung genutzt werden. Gropp stimmt dem zu und sieht in der Erhöhung der Verteidigungsausgaben eine wichtige Herausforderung, die möglicherweise durch einen Sonderfonds finanziert werden könnte.
Demographische Herausforderungen und Fachkräftebedarf
Ein zentrales Thema ist der demografische Wandel, der den Arbeitsmarkt bedroht. Schnitzer argumentiert, dass es nötig sei, netto 400.000 Zuwanderer pro Jahr zu gewinnen, um die Anzahl der Erwerbspersonen stabil zu halten. Eine gezielte Zuwanderungspolitik ist unumgänglich, um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen. Diese Herausforderungen spiegeln sich auch in den allgemeinen Entwicklungen der deutschen Wirtschaft wider, die sich an dynamische Veränderungen anpassen muss. Wichtige Themen dabei sind der Klimawandel, künstliche Intelligenz und Elektromobilität.
Gropp bleibt optimistisch, dass mutige Reformen in den nächsten zehn Jahren zu notwendigen Verbesserungen führen können. Ein besserer Umgang des Staates als Dienstleister anstatt als übergriffiger Regulierer wird als notwendig erachtet. Nur so kann das Vertrauen der Bürger zurückgewonnen und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum gesichert werden. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen politischen Akteure den Mut und die Entschlossenheit aufbringen, diese Reformen umzusetzen.