
Mehr als 120 Wissenschaftler*innen haben heute einen Appell an die politischen Parteien von Union und SPD veröffentlicht, in dem sie eine gesetzliche Stärkung der Tarifautonomie fordern. Das Ziel dieser Initiative ist es, durch konkrete gesetzliche Regelungen die Tarifbindung im kommenden Koalitionsvertrag zu verbessern, wie Böckler.de berichtet.
Die Unterzeichner*innen des Appells sind überwiegend Professor*innen aus den Wirtschafts-, Sozial- und Rechtswissenschaften. Sie argumentieren, dass eine hohe Tarifbindung entscheidend sei, um Niedriglöhne, Armut und soziale Ungleichheit zu reduzieren. Internationalen Forschung zufolge weisen Länder mit einem hohen Grad an Tarifbindung zudem eine hohe Einkommensgleichheit und Beschäftigungsquoten auf.
Herausforderungen und Vorschläge
Aktuell gelten Tarifverträge nur für 49% der Beschäftigten in Deutschland, ein drastischer Rückgang im Vergleich zu 85% in den 1990er Jahren. Besonders betroffen sind im Niedriglohnsektor Beschäftigte ohne Tarifvertrag, die im Durchschnitt 10% weniger verdienen als ihre tarifgebundenen Kolleg*innen. Der Abwärtstrend bei der Tarifbindung ist alarmierend und erfordert politische Unterstützung, um gegenzusteuern.
Um diesem Trend entgegenzuwirken, schlagen die Wissenschaftler*innen mehrere gesetzliche Instrumente zur Erhöhung der Tarifbindung vor, darunter:
- Bundestariftreuegesetz
- Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE)
- Tarifbindung als Kriterium für staatliche Wirtschaftsförderung
- Längere Nachwirkung von Tarifverträgen bei Ausgliederungen
- Verbesserte digitale Zugangsrechte von Gewerkschaften
- Stärkung von Arbeitgeberverbänden als Tarifvertragspartei
Die Forderungen finden eine beständige Wiederholung in der Debatte über den Rückgang der Tarifbindung in Deutschland, die bereits von verschiedenen Seiten beklagt wird. Ein Bericht von Gesamtmetall beschreibt zudem die sinkenden Mitgliederzahlen bei Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, die die Verhandlungen umso schwieriger gestalten.
Tarifautonomie und deren Bedeutung
Tarifautonomie ist ein zentrales Element des deutschen Arbeitsmarkts. Sie ermöglicht es Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, Lohn- und Arbeitsbedingungen autonom festzulegen, ohne staatliche Intervention, basierend auf Artikel 9 des Grundgesetzes. Diese Autonomie wird jedoch zunehmend durch den Rückgang der Mitgliederzahlen und steigende Lohnkonkurrenz bedroht. Ein Beispiel für die Krisensituation ist der Bahnstreik kurz vor der Bundestagswahl, der die Notwendigkeit eines staatlichen Eingreifens in die Diskussion brachte.
Die Stabilität der Tarifautonomie hängt stark von den rechtlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen ab. Noch 1998 waren 76% der Beschäftigten in Westdeutschland tarifgebunden, ein Wert, der bis 2017 auf 57% fiel; in Ostdeutschland von 63% auf 44%. Trotz dieser Herausforderungen haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände den Kern der Tarifautonomie in Deutschland bis heute verteidigt, wie auch die Bundeszentrale für politische Bildung bestätigt.
Die Autor*innen des Appells fordern die politischen Parteien dringend auf, wirksame Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung in ihren Koalitionsverhandlungen zu berücksichtigen, um dem Abwärtstrend entgegenzuwirken und die Grundlagen des deutschen Sozialmodells zu sichern.